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Mein Körper, das bin ich: Über eine körpergerechte Erziehung

by GuoLucy 08 Mar 2023 0 comments

Frontansicht – drei Frauen halten Plakate mit Body-Positivity-Statements

Kinder verfügen von klein auf in der Regel über ein sehr entspanntes und liebevolles Körpergefühl. Falsche Erziehungsansätze, das Umfeld, Freunde, aber auch Medien können dieses jedoch empfindlich erschüttern und Kinder und Jugendliche nachhaltig verunsichern. Essstörungen im Jugendalter sind leider keine Einzelfälle mehr. Der Artikel regt Eltern und Fachkräfte zum Nach- und Umdenken an und unterstützt mit Anregungen und Tipps die Entwicklung einer gesunden Körperwahrnehmung.

Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper

Viele Menschen haben heute ein gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper. Sie schämen sich für ihn – weil er ihnen zu dick, zu dünn, zu unproportional oder zu faltig vorkommt, weil er schlecht aussieht oder unangenehm riecht. Sie bekämpfen ihn mit Diäten und Deodorants, mit Korsetts und Kosmetik.

Immer mehr Mädchen, und zunehmend auch Jungen, werden während der Pubertät magersüchtig oder esssüchtig. Noch viel mehr – Jungen wie Mädchen – sind mit ihrem äußeren Erscheinungsbild unzufrieden. Sie klagen über zu dünne Beine, zu große Pobacken, zu kleine Brüste oder zu wenig Muskulatur. Um dies zu ändern, nehmen sie allerlei gesundheitliche Nachteile in Kauf. Sie sehen ihren Körper als Feind, den es zu bekämpfen und zu kasteien gilt, oder als Material, das es zu verändern und nach bestimmten Maßstäben zu formen gilt. Sie können sich in ihrem Körper, so wie er ist, nicht wohlfühlen, weil sie einem von Mode und Werbung propagierten Schönheitsideal folgen.


Aber mein Körper, das bin auch ich


Runde Formen und kräftige Beine gehören zu meiner Identität, genauso wie mein Temperament oder meine Sensibilität. Wer sich selbst wirklich mag, mag auch seinen Körper so, wie er ist. Sie verlieren ihr Selbstwertgefühl nicht, wenn sie Falten bekommen, und geraten nicht in Panik, wenn sie statt nach Deo und Eau de Cologne nach sich selbst riechen.

Sich im eigenen Körper wohlzufühlen, ist eine der Voraussetzungen für ein solides Selbstwertgefühl. Wenn ich einen Teil von mir nicht ausstehen kann, ihn unbedingt verändern möchte, kann ich mich als Ganzes nicht so akzeptieren, wie ich bin.

Wie muss eine Erziehung aussehen, die Kindern eine größere Chance gibt, sich in ihrem Körper wirklich wohlzufühlen?

Sich selbst spüren


Wir greifen über unsere Sinne auf unseren Körper zu – durch Sehen, Hören, Riechen, Tasten, Fühlen. Diese Sinne sind Funktionen des Körpers, mit diesen Sinnen können wir den Körper auch wahrnehmen, erforschen und kennenlernen.

Im Leben der meisten Erwachsenen sind die Sinne ganz anders gewichtet. Wir alle können ganz gut sehen – und wenn nicht, tragen wir eine Sehhilfe. Unser Gehör strapazieren wir oft so sehr, dass es subtile Geräusche nicht mehr wahrnimmt – das Singen der Regentropfen auf einem See, das zarte Zwitschern eines Insekts, die Eigenheiten des Vogelgesangs. Was Tastfinger wahrnehmen können, müssen uns erst Blinde beibringen. Empfindungen auf unserer Haut, Signale aus dem Körperinneren, können wir oft nicht richtig deuten. Was rollt oder pocht, was zieht, drückt oder schmerzt da? Was geht da im Inneren vor?

Ein Kind, das sich in seinem Körper wohlfühlen soll, braucht Nahrung für alle Sinne, es soll sich darin bestätigt fühlen, allen seinen Sinneswahrnehmungen Aufmerksamkeit zu schenken, auch den Gefühlen, die sie auslösen – angenehmen und unangenehmen, lustvollen und abstoßenden oder schmerzhaften. Dann bleibt ihm sein Körper weniger fremd.

Dem Körper vertrauen


In der Erziehung wird mit dem Körper des Kindes oft recht freudlos umgegangen. Körperpflege ist für viele das Erste, was ihnen dabei in den Sinn kommt - Waschen, Zähne putzen, eincremen, vor Verletzungen und Krankheiten schützen - ein eher sachlicher, nüchterner Umgang, oft gegen den Willen des Kindes.

Aber hat das liebevolle Betrachten, Streicheln und Liebkosen auch genügend Raum? Genießen wir den Duft der kindlichen Haut, fahren wir mit sanften Fingern die zarten Rundungen seines Körpers nach? Staunen wir über die Fingerfertigkeit der Hände und Füße, aber auch über die Erektion des kleinen Jungen oder das große Häufchen, das das Kind ins Töpfchen gemacht hat? Lernt das Kind seinen Körper mit all seinen Teilen und Funktionen als etwas Bewundernswertes kennen, wird es dazu angeregt, seiner Fähigkeit zum Fühlen lustvoll nachzuspüren?

Kinder haben schon sehr früh ein feines Gespür dafür, was ihr Körper jetzt braucht, was ihm guttut. Wir können sie dabei unterstützen, diese Fähigkeit zu festigen und danach zu handeln. Stattdessen meinen wir oft, besser zu wissen als das Kind, was es fühlt und braucht. Wir bestimmen, wann dem Kind kalt ist und es sich etwas anziehen muss, wann es aufs Töpfchen muss, was und wie viel es essen muss, damit sein Körper gesund bleibt.

Warum fragen wir nicht stattdessen: Ist dir kalt? Musst du aufs Töpfchen? Was willst du essen? Wir vertrauen der Fähigkeit des Kindes, selbst zu spüren, zu wenig. Deshalb hindern wir es daran, es bewusst wahrzunehmen und auszudrücken. Warum tun wir das? Weil wir es selbst zu wissen gelernt haben?


Vielleicht müssen wir, wie so oft, bei uns selbst anfangen.


Wie gehen wir eigentlich selbst mit unserem Körper um? Verstecken wir ihn lieber oder gefällt er uns so wie er ist? Beklagen wir uns ständig über den Schwimmring um unsere Taille oder die Cellulite an unseren Oberschenkeln? Leben wir mit Freude in unserem Körper und zeigen wir ihn auch?

Es ist schwer, eine solche Einstellung zu vermitteln, wenn man selbst nicht darüber verfügt.

In einem meiner Seminare sprachen wir über Urlaubsträume. Ein Mann, der von Beruf jeden Tag mit Krawatte und Anzug herumlaufen muss, sagte: „Ich würde gern drei Wochen lang mit Fahrrad und Zelt herumfahren, die ganze Zeit dieselbe Jeans tragen und leise vor mich hin stinken.“ Einige stimmten sofort mit ein und fuhren eifrig mit. Andere konnten sich ein bequemes Leben ohne Badezimmer im Hotel, ohne einen frischen Pullover für jeden Tag nicht vorstellen.

Und wie sehen Sie das?

Wenn Sie ungewöhnlich pingelig sind, was Sauberkeit und persönliche Hygiene angeht – unermüdlich jedem Bakterium nachjagen, ständig Ihre Hände waschen und jede Menge Deodorant gegen jegliche Art von Tiergeruch verwenden –, lohnt es sich, sich selbst einige selbstkritische Fragen zu stellen:

Hat das etwas mit meiner Einstellung zu Sinneslust und Sexualität zu tun?
Wie bin ich erzogen worden?
Welche Wirkung habe ich, wenn ich diese Einstellung an mein Kind weitergebe?


Kleine Kinder haben solche Probleme noch nicht


Ihre Sinnlichkeit ist noch ungebrochen, für „domestizierte“ Erwachsene manchmal befremdlich. Kleine Kinder sind gierig nach sinnlichen Erlebnissen. Alles schmecken, alles riechen, alles anfassen, sich auf der Blumenwiese wälzen oder sich gemütlich unter zarten Händen strecken – man sieht ihnen an, wie viel Freude sie empfinden.

Kleine Kinder probieren aus, was ihr Körper alles kann. Schreien bis einem die Ohren klingeln, sich drehen bis die ganze Welt schwankt, rennen und toben bis einem der Atem stockt, das Herz rast und der Kopf rot wird wie eine Rote Bete. In solchen Situationen verausgabt sich das Kind, kommt lautstark zum Vorschein, spürt sich besonders intensiv und auch das gehört zum Selbstgefühl.

Vielleicht tröstet Sie das, wenn Ihre Kinder schreiend den Flur rauf und runter rennen oder immer wieder vom Etagenbett springen. Und denken Sie bei roten Köpfen und nassen, verschwitzten Haaren nicht immer an Erkältungen!


Den eigenen Körper erkunden


Kinder erleben ihren Körper als spannendes Erfahrungsfeld, das sie austesten und erforschen. Dabei untersuchen sie mit neugierigen Fingern auch sämtliche Gliedmaßen und Körperöffnungen, stochern in Augen, Ohren, Nasen ihrer selbst und anderer herum. Die Geschlechtsteile schließen sie bei ihren Erkundungen nicht aus – warum auch?

Kleine Kinder kennen keinen Ekel, wenn sie auch ihre eigenen Ausscheidungen untersuchen, sie kosten, sich damit einschmieren und in der Umgebung verteilen. Das wird kaum ein Erwachsener akzeptabel finden. Doch allzu vehement geäußerter Ekel oder gar Bestrafung müssen dem Kind suggerieren, dass ein Teil von ihm schmutzig, böse und unerwünscht ist. Dieselben Konsequenzen ergeben sich, wenn jegliche Erforschung der eigenen Ausscheidungs- und Geschlechtsorgane tabuisiert wird, mit „Igitt!“ und „Das tust du nicht!“

Kinder haben lange Zeit ein geheimnisvolles Vergnügen an allem, was schlammig und stinkig ist. Den Finger in den Hintern stecken und lustvoll kichern, während sie daran riechen – haben Sie das noch nie gemacht? Mit Schlamm herumhantieren oder sich sogar darin wälzen, bis man aussieht wie ein Ferkel. Wissen Sie noch, wie viel Spaß das machen kann? Wie wohl man sich in seiner eigenen Haut fühlen kann?


Eine körperfreundliche Erziehung


Eine körpergerechte Erziehung akzeptiert den Erkundungsdrang und die sinnlichen Wünsche der Kinder, auch wenn sie diese allmählich behutsam in zivilisiertere Bahnen lenkt.

Die Misshandlung kann mit anderen Materialien als dem Inhalt der Windel erfolgen und die Nacktheit wird nach und nach auf Haus und Garten oder andere geschützte Bereiche beschränkt.

Auch alle möglichen „Doktorspiele“ gehören besser nicht in die Augen der Öffentlichkeit. Es mag Menschen geben, die sich daran stören, aber es gibt auch andere, die sich unangemessen daran erfreuen. So kann man es Kindern erklären. Nicht was sie tun, ist schlimm, sondern was andere daraus machen könnten.

Zu Hause hingegen darf man alles erforschen, alles fragen und sagen, was den Körper und seine Funktionen betrifft. Alle Körperteile haben Namen, schlichte und auch zärtlich-verspielte für den Heimgebrauch.

Die Zone „da unten“ ist weder besonders schmutzig noch sonst tabu. Man kann sie auch dazu nutzen, sich ein angenehmes, prickelndes Gefühl im Bauch zu verschaffen. Die meisten Kinder entdecken das schon früh. Manche merken natürlich, dass das ihren Eltern sicher nicht gefallen würde und verstecken es deshalb sorgfältig unter der Bettdecke.

Wenn Ihr Kind lustvoll mit seinem Geschlechtsteil spielt, zeigt das, dass es sich in seinem Körper wohlfühlt und sich gesund entwickelt. Wenn es sich dabei nicht versteckt, zeigt das, dass es Vertrauen zu Ihnen hat.

Vielen Eltern wird es schwerfallen, mit solchen Äußerungen kindlicher Entdeckerfreude und Sinnlichkeit so unvoreingenommen umzugehen, weil sie selbst anders erzogen wurden, weil sie dafür gescholten oder bestraft wurden. Aber sie können es versuchen. Wenn sie dem Kind statt „Das tust du nicht“ statt „Das darfst du nicht“ erklären, „Das ist mir unangenehm, weil ich als Kind dafür bestraft wurde“, hat es schon viel gewonnen.


Mein Körper gehört mir


Wenn Kinder darin bestärkt werden, auf ihre eigenen Empfindungen zu achten und darauf zu reagieren, werden sie auch unvoreingenommen angeben, welche Berührungen anderer ihnen angenehm sind und welche nicht. Und sie sollen wissen: Ich darf mit meinem Körper alles machen, andere dürfen es ohne meine Erlaubnis nicht. Tante Mine darf mich nicht einfach anfassen und küssen und ich muss niemandem die Hand schütteln, wenn es mir nicht passt.

Manchen wird das unhöflich vorkommen. Doch ein Kind, das es gewohnt ist, solche Aufforderungen ablehnen zu dürfen, wird sich auch leichter und selbstbewusster wehren, wenn ihm jemand ohne Erlaubnis an die Wäsche fassen will.

Erwachsene, die dem Kind unbedingt „an die Wäsche gehen“ wollen – der Arzt zum Beispiel oder die Gouvernante – sollten dies dem Kind ankündigen und klare Gründe nennen: „Ich muss jetzt deinen Bauch untersuchen“ oder „Komm, ich möchte deine Windel wechseln.“

Beim Arzt muss zwar manches gegen den Willen des Kindes geschehen, dies wird aber immer explizit vom Vater oder der Mutter legitimiert und hoffentlich auch dem Kind erklärt. Was aber macht zum Beispiel eine Erzieherin, wenn ein Kind einen Windelwechsel verweigert?

Schließlich ist diese Situation eine kritische Betrachtung wert. Nicht jeder wird zum gleichen Schluss kommen.

Manche Kinder, die als Kleinkinder ohne Hemmungen nackt durch die Wohnung gesprungen sind, fangen irgendwann an, die Badezimmertür abzuschließen, weil sie sich von niemandem anfassen lassen wollen. Das ist ihr gutes Recht, auch wenn die Eltern, die selbst vielleicht keine Scheu davor haben, nackt zu sein, den Grund dafür nicht verstehen. Der Respekt vor der Persönlichkeit eines Kindes beinhaltet den Respekt vor seiner körperlichen Autonomie.


Quelle


Helga Gürtler (2000): Wie mein Kind selbstbewusst wird, Midena Verlag, München

Literatur


Marcella Barth, Ursula Markus (1991): Zärtliche Eltern, Lebendige Sexualerziehung durch Zärtlichkeit, Sinnesnahrung, Körpergefühl, Bewegung, Verlag pro juventute, Zürich.

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